Allerorts erwachen Kneipen, Cafés und Museen aus dem Winterschlaf der Corona-Pandemie. Zarte Triebe und Blüten des kulturellen Betriebes entfalten sich und künden von einer neuen Normalität.
Die vergangenen Wochen der Abgeschiedenheit habe ich mit zwei Büchern verbracht, die ich hier vorstellen möchte.
Hilary Mantel: Spiegel und Licht. (DuMont Buchverlag, Köln: 2020))
In den beiden Vorgängerromanen „Wölfe“ und „Falken“ sind die zentralen Themen Politik und Macht in der Tudorzeit. Wir Leser*innen verfolgten den unwahrscheinlichen Aufstieg von Thomas Cromwell und erlebten den Aufbruch der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft in die frühmoderne Zivilisation. Auch in „Licht und Spiegel“ bleibt uns Cromwell als Protagonist erhalten. Der 3. Band erzählt seine wirkungsvollsten Lebensjahre, in denen er den englischen Staat in die Neuzeit holt. Das Werkzeug dafür ist die Vernunft. Cromwell lernt das Knowhow dafür in Italien kennen. Er führt die doppelte Buchführung ein und sorgt somit dafür, dass die Staatsfinanzen nicht nur konsolidiert, sondern verbessert werden. Jegliche Kommunikation am Hofe und in seiner Kanzlei wird verschriftlicht, in Verträge oder Protokolle gepackt und archiviert. Die Politik folgt nicht mehr (allein) den individuellen Emotionen, sondern stützt sich auf ein Netz von Informationsbeschaffern. Das Wohl des Königs, Heinrichs VIII., ist zwar Staatsräson, die gesamte englische Gesellschaft blüht aber in Folge dessen auf. Auch weil Cromwell Kriege vermeidet.
Wer will, kann in diesem Roman die Blaupause für den märchenhaften Aufstieg der Pfarrerstochter aus der Uckermark lesen. Wie Angela Merkel gegen alle Wahrscheinlichkeit Parteivorsitzende und Kanzlerin wurde, die Parteispendenaffäre und Altkanzler Kohl abwickelte, die Konkurrenten der Anden-Connection ausstach und die Krisen ihrer Amtszeit bewältigte, hat erstaunliche Parallelen in der Romanfigur Thomas Cromwell. Vielleicht hilft die Erzählung Hilary Mantels, Merkel in einem anderen, besseren Licht zu sehen. Genauso wie die erstaunliche gute filmische Inszenierung des politischen Betriebes in „Die Getriebenen“ (Regie: Stephan Wagner, Deutschland 2020), die nicht nur an die großartige Tradition des deutschen Fernsehspiels anknüpft, sondern veranschaulicht, wie schwierig Politik in einer unüberschaubaren und komplexen Welt ist. Zu Zeiten Cromwells war die Welt vielleicht etwas überschaubarer, der Roman reduziert diese zumindest auf etwas mehr als 1000 Seiten, dennoch werden die Hilfslinien und Möglichkeiten von Politik, wie sie uns noch heute vorkommt, deutlich. Wenn Thomas Cromwell eine – wie heute üblich – demokratisch bestimmte endliche Amtszeit gehabt hätte, wäre ihm der Richtblock (vielleicht) erspart geblieben.
Den Parallelen von Literatur und Realität bleibe ich treu mit Lutz Seilers „Stern 111“. (Suhrkamp Verlag, Berlin: 2020)
Der Autor schickt sein Alter Ego Carl Bischoff in das Berlin der Jahre 1989 bis 1992. In den runtergekommenen Altbauten des Prenzlauer Berges kann Carl Bischoff seine handwerklichen Fähigkeiten als Maurer anwenden. Mit ihm erleben wir eine anarchische Zeit, in der Lebensmuster und Rollenverhalten ausprobiert werden, eine Art Untergrundcafé gegründet wird und unser Held nicht nur Gedichte schreibt, sondern auch ganz schön Stress mit seinen Gefühlen hat.
Carl ist nicht nur genauso alt wie ich. Während er im Wendejahr nach Berlin aufbricht, erlebe ich diese Zeit in Leipzig und Dresden. Toiletten auf halber Etagenhöhe, frei stehende Duschkabinen, Matratzenlager, Wasserschäden in den Wänden und Zimmerdecken, die des Nachts herunterstürzen, sind unsere gemeinsamen Wohnerlebnisse. Ein unheimlich schrankenloses Lebensgefühl zeigte sich in beinahe täglichen Feiern, Musik und Tanz, wilden Diskussionen und einem unbändigen Freiheitswillen.
Carl besucht seine ausgewanderten Eltern im kalifornischen Malibu, während ich unweit davon am Strand von Santa Monica spazieren gehe.
Und als ich erkennen muss, dass die neue Welt alles außer einem jungen Gymnasiallehrer aus dem Westen braucht, unterschreibt Carl einen gültigen Mietvertrag und wird bürgerlich. Lutz Seiler hebt mit seinem Roman einen Deckel, unter dem die Erinnerungen an diese Zeit hervorkrabbeln wie die Asseln, als Carl ein Kellergewölbe renoviert.
Mit 30 Jahren zeitlichen Abstandes liegt damit ein weiterer Roman vor, der das spannende Projekt der Wiedervereinigung widerspiegelt. Allerdings aus der Perspektive von Kellerräumen Ostberlins. Zu meiner Perspektive vielleicht an anderer Stelle mehr…